Das namenlose Dorf
von Edward Kanterian
Publiziert in Tachles, 24. April 2015
Ich stamme aus der armenischen Gemeinde in Bukarest. Einst waren die Armenier eine einflussreiche Minderheit in der rumänischen Hauptstadt, besonders vor dem Zweiten Weltkrieg. Sie profitierten von zwei größeren Einwanderungswellen, einmal am Ende des 19. Jahrhunderts, als mein Urgrossvater Ohannes am Vorabend von Pogromen das Osmanische Reich verließ, dann wieder am Ende des Ersten Weltkrieges, nachdem eine noch grössere Katastrophe über die osmanischen Armenier eingebrochen war. Im Jahre 1921 erfuhr Ohannes aus der Zeitung, dass eine verloren geglaubte Verwandte, Arsaluis, nach Familienmitgliedern suchte. Sie hielt sich im Ausland auf, wahrscheinlich in Syrien oder Bulgarien, wo es viele armenische Flüchtlinge nach dem Krieg verschlagen hatte. Ohannes schickte ihr Geld für die Reise, und so kam sie zu meiner Familie nach Bukarest. Arsaluis stammte, wie auch meine Großmutter Zaruhi, aus einem kleinen Dorf nahe der zentralanatolischen Stadt Sivas. Der Name des Dorfes ist ungewiss, laut meiner Tante hieß es vielleicht Lisanlou oder Lisanlu. Man findet ihn aber auf keiner heutigen Karte. Unsere Großfamilie in jenem Dorf zählte an die fünfzig Seelen, mehrheitlich Bauern und Händler. Was aus ihnen geworden ist, wissen wir bis heute nicht. Ich kenne keine Namen, habe keine Adressen, weiß von keinen Gräbern. Die Briefe von Ohannes an jenes Dorf blieben nach 1915 unbeantwortet, obwohl davor noch ein reger Austausch bestanden hatte. Arsaluis kannte die Gründe dieses Schweigens, aber wenn man sie nach dem Verbleib unserer Angehörigen oder selbst nach ihrer Odyssee von „Lisanlou“ nach Bukarest fragte, brach sie in Tränen aus und flüchtete aus dem Zimmer.
Meiner Familie in Bukarest erschloss sich mit der Zeit, was mit den Verwandten in Anatolien geschehen war, denn sie traf auf Armenier, die von ausgedehnten Gräueln während des Krieges berichteten. Hier ist das Zeugnis einer Bukarester Armenierin, Luisar Pîinizian, geboren in einem Dorf bei Bursa in der Westtürkei, über das Jahr 1915: „Ich war zehn Jahre alt, als das Unglück über uns kam. Die Männer wurden in die türkische Armee einberufen, aber in Wahrheit passierte etwas ganz Anderes mit ihnen. Für uns, die Frauen und Kinder, fing da der Leidensweg an, da wir gezwungen wurden, unsere heimatliche Gegend zu verlassen und auf Wanderschaft zu gehen, in das unbekannte, fremde Anatolien. Die Alten und Kranken wurden von den Türken in die Dorfkirche getrieben, die man dann in Brand steckte. Ein Menschenleben allein genügt nicht, um all das zu vergessen.“ Solche Berichte brannten sich tief in das kollektive Gedächtnis ein, lange bevor es eine wissenschaftliche Erforschung des „Medz Yeghern”, des „Grossen Verbrechens” gab. Meine Tante, 1921 in Bukarest geboren, wachte als Kind manchmal schreiend aus Alpträumen auf, in denen „die Türken uns gefangen hatten und das Schwert durch uns treiben wollten“. Auch mir erzählte mein Vater schon sehr früh vom Genozid, was meine eigenen Forschungsinteressen, z.B. über die Shoa, sicherlich beeinflussten.
Zeugnisse von Überlebenden des „Medz Yeghern” gibt es inzwischen sehr viele. Ergänzt werden sie von Berichten weiterer Zeitzeugen, jener, die den Armeniern halfen, und jener, die bloß „Zuschauer“ waren (um eine Kategorie Saul Friedländers zu verwenden). Zu den ersteren gehörten Priester und Nonnen, die karitativ und missionarisch im Mittleren Osten tätig waren, und viele Waisenkinder versorgten, sowie ausländische Diplomaten wie der damalige US-Botschafter in Konstantinopel, Henry Morgenthau. Dieser protestierte nicht nur wiederholt bei der jungtürkischen Führung gegen die Behandlung der Armenier, sondern rief auch einen amerikanischen Hilfsfond ins Leben (das „Committee of the Armenian Atrocities“). In August 1915 schrieb der Apostolische Gesandte in Konstantinopel, Angelo Dolci, nach Rom: „Es ist unmöglich, sich eine Vorstellung davon zu machen, was im Landesinnern geschieht. Die gesamte armenische Landesbevölkerung wird systematisch auf brutalste Weise aus ihren Städten und Dörfern vertrieben und an unbekannte Orte verschleppt. Meistens müssen alle diese armen Menschen in größeren Gruppen den Weg zu Fuß zurücklegen durch die trockene Landschaft, wo viele von ihnen nach ein paar Tagen den Tod finden“. Zu den bloßen Zuschauern gehörte der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Hans Freiherr von Wangenheim, der über die Ermordung der Armenier durch Berichte seiner Konsuln aus den osmanischen Provinzen genau informiert war, aber es vorzog, sich in die „inneren Angelegenheiten der Türkei“ nicht einzumischen, wie er Morgenthau gegenüber betonte.
Wie Puzzleteile tragen diese vereinzelten Stimmen und Perspektiven dazu bei, dass wir uns heute ein recht genaues Gesamtbild von der systematischen Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich machen können. Diese lief häufig nach einem bestimmten Muster ab. Zuerst wurden die Notabeln und die wehrfähigen Männer der jeweiligen armenischen Gemeinde verhaftet und außerhalb der Ortschaft hingerichtet. Dann wurden die Frauen, Kinder und Alten deportiert, im Falle von Luisa zuerst weiter nach Osten, schließlich aber in den Süden, in die syrische Wüste, vor allem nach Deir ez-Zor. Vielfach waren diese Deportationen von schrecklichen Massakern begleitet, ausgeführt von der türkischen Gendarmerie, den Todesschwadronen der sogenannten Teşkilât-ı Mahsusa, einer bewaffneten „Spezialorganisation”, aber auch von kurdischen und tscherkessischen Stämmen. Wer diesen entkam, starb später in den Wüstenlagern an Hunger und Durst, oder wurde dort umgebracht. Forscher gehen davon aus, dass so zwei Drittel der osmanischen Armenier umkamen. Beispielsweise lebten in „meiner“ Provinz Sivas gut 200.000 Armenier vor dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Krieg gab es nur noch 12.000 von ihnen. Waren darunter vielleicht auch Vorfahren von mir? Warum kam dann Arsaluis als einzige zu uns nach Bukarest? Warum erzählte sie nichts von ihren Eltern und Geschwistern, warum suchte sie erst gar nicht nach ihnen? Was hat sie gesehen, was wurde ihr angetan und wie hat sie überlebt? Vor einigen Jahren erzählte mir eine Armenierin in München, dass ihr Vater ebenfalls aus Sivas stammte und 1915 als Kind ein Massaker überlebt hatte, weil er, begraben unter den Leichen der Toten, vor den Bajonetten der kontrollierenden Soldaten geschützt war. Er erzählte auch von dem Fluss, der noch heute durch Sivas fließt, Kızılırmak. Der Fluss war rot vom Blut der Ermordeten.
Es gab auch viele erzwungene Islamisierungen und Adoptionen, vor allem von Kindern, was ihnen immerhin das Leben rettete. Doch die meisten armenischen Kinder hatten kein solches Glück. Unfassbare Verbrechen geschahen beispielsweise auf Anordnung des Polizeichefs von Deir ez-Zor, Mustafa Sidki, im Oktober 1916, als man über 2000 armenische Waisenkinder, Überlebende der Deportationen, mit Kerosin verbrannte oder gefesselt in den Euphrat warf.
Wie kam es zu diesen bestialischen Verbrechen? Sicher ist, dass sie keine vereinzelten und spontanen „Massaker“ waren, sondern Teil eines geplanten Massenmords an einer bestimmten Volksgruppe, was den Straftatbestand des Völkermords erfüllt. Hier ein aufschlussreicher Einzelfall: Am 1. Juli 1915 eröffnete der Gouverneur der Provinz Sivas, Ahmed Muammer, den örtlichen armenisch-apostolischen und armenisch-katholischen Bischöfen, dass vier Tage später die armenische Bevölkerung der Provinzhauptstadt nach Mesopotamien „evakuiert“ werde. Eine Lüge, denn tatsächlich hatte die Ermordung der Armenier in Sivas schon im März begonnen. Muammer fügte hinzu, dass ohne sein vorgeblich voraussichtiges Handeln die Armenier eine Rebellion gestartet und der Osmanischen Armee einen Dolchstoss in den Rücken versetzt hätten. Auch das war eine Lüge, denn Männer im wehrfähigen Alter gab es so gut wie keine mehr in Sivas. Zudem hatten die armenischen Vertreter immer wieder der osmanischen Regierung versichert, dass die Armenier treue osmanische Untertanen waren.
Nun war Muammer nicht nur ein Provinzgouverneur, sondern gleichzeitig der örtliche Anführer der „Spezialorganisation“. Er hatte schon im Herbst 1914 ihre Truppenstärke erhöht, indem er verurteilte Mörder amnestierte. Ähnliches geschah in den anderen osmanischen Provinzen. Die Gouverneure von Trabzon, Djemal Azmi, und Diyarbakır, Mehmed Reschid, waren ebenfalls Anführer jener „Spezialorganisation“. Beide zeichneten sich durch besondere Grausamkeit gegen armenische Frauen und Kinder aus. Beide waren zudem hohe Funktionäre in dem jungtürkischen „Komitee für Einheit und Fortschritt“, Reschid sogar einer der Gründer. Das Komitee kam 1908 an die Macht, und wurde während des Krieges von Talât Pascha (Innenminister) und Enver Pascha (Kriegsminister) angeführt. Die Vernichtung der Armenier war also Programm, was sich schon an der institutionellen Organisation des Osmanischen Reiches zeigte.
Schon vor dem Krieg hatten die Jungtürken die rassisch begründete Ideologie des Pantürkismus adoptiert, der zufolge das Osmanische Reich zu neuer Glorie finden sollte, indem man es von allen volksfremden Elementen reinigen und mit den Turkvölkern in Asien vereinigen würde. Dazu ging man eine militärische Allianz mit dem deutschen Kaiserreich ein, welches sich davon wiederum eine stärkere koloniale Präsenz im Mittleren Osten versprach. Die Situation eskalierte, als die von Enver angeführte Offensive gegen Russland im Kaukasus im Winter 1914/1915 vernichtend geschlagen wurde. Berichte über armenische Soldaten, die zu den Russen überliefen, sowie der drohende Angriff durch die Alliierten an den Dardanellen taten ihr Übriges, so dass die Jungtürken schnell den Hauptschuldigen ausmachten – die Armenier. Diese gerieten so in das, was der amerikanische Historiker Manus Midlarsky „the killing trap“ nennt: eine innere Minderheit wird in einer für eine Nation als existenzbedrohend wahrgenommenen Situation als Agent der äußeren Feinde angesehen. Diese feindselige Wahrnehmung hatte allerdings eine lange Vorgeschichte, denn als Christen waren die Armenier (wie auch die Griechen) schon lange von den muslimischen Türken stigmatisiert. So hatte es ausgedehnte Massaker gegen die Armenier bereits Ende des 19. Jahrhunderts unter Sultan Abdul Hamid II., und dann wieder 1904 und 1909 gegeben. Diesmal beschlossen die Jungtürken auf einem geheimen Treffen im März 1915, die „armenische Frage“ endgültig zu lösen. Zuerst sollten die an der russischen Front angrenzenden Provinzen ethnisch gesäubert werden. Schließlich, am 21. Juni 1915, wurde die Deportation aller Armenier aus allen Provinzen befohlen, auch jener im Westen des Landes. Gut eine Woche später schrieb der deutsche Generalkonsul Johannes Heinrich Mordtmann nach Berlin: „so sollen nunmehr auch die Armenier in den Provinzen Djanik, Trapezunt, Sivas und Mamuret ul Aziz nach Mesopotamien abgeschoben werden. Das lässt sich nicht mehr durch militärische Rücksichten rechtfertigen; es handelt sich vielmehr, wie mir Talât [Pascha] vor einigen Wochen sagte, darum die Armenier zu vernichten.”
Das ist den Jungtürken im Grossen und Ganzen auch gelungen. An die 1.5 Millionen Armenier sollen in den Jahren 1915-1916 umgekommen sein. Heute leben einige Zehntausend in der Türkei, die meisten in Istanbul, deren armenische Gemeinde aus außenpolitischen Gründen zum Teil verschont wurde. Führende Jungtürken kamen nach dem Ersten Weltkrieg in Istanbul vor Gericht. Talât, Enver und andere erhielten Todesurteile, denen sie sich durch Flucht in das Kaiserreich entziehen konnten. Allerdings gelang es armenischen Rächern manche dieser Verbrecher zu töten, wie etwa 1921 in Berlin Talât Pascha. Mit dem Wiedererstarken der türkischen Nation durch Atatürk wurde der Völkermord ignoriert und geleugnet. Inzwischen betreibt die Türkei einen großen Aufwand, um sich nicht zu ihrer historischen Schuld zu bekennen, der „schwarzen Blutspur auf ihrer Stirn“, wie einer ihrer größten Dichter, Nâzım Hikmet, es 1951 formulierte. Dabei ist die wissenschaftliche Forschung sehr weit vorangeschritten, und die Beweislast gegen die Jungtürken erdrückend, erbracht nicht nur von armenischen, deutschen, französischen und amerikanischen, sondern auch von kritischen türkischen Historikern wie Taner Akçam und Hamit Bozarslan. Auf offizieller Seite herrscht eher eine gewisse Komplizenschaft mit den Mördern von 1915. Nach Talât Pascha sind viele Straßen in der Türkei benannt, und mit dem Namen des Kinderschlächters Djemal Azmi schmückt sich heute eine Grundschule in Trabzon. Diese Kultur der Leugnung ist nicht nur abstoßend, sondern vergiftet das historische Selbstverständnis der Türkei. Meine Tante sagte mir neulich, das sei ihr nur recht, denn so würde der internationale Druck auf die Türkei nicht nachlassen.
Mir persönlich wäre es dennoch lieber, wenn die türkischen Negationisten recht hätten. Denn dann hätte es keine armenische Tragödie gegeben. Alles wäre nur ein Spuk gewesen. Ich würde jetzt mit den Nachfahren von Arsaluis in einem türkischen Café in Sivas sitzen und sie bitten, mir ein bisschen Türkisch beizubringen. Denn es heißt, Türkisch sei eine schöne Sprache. Eine Sprache, in der Flüsse eben so heißen, wie sie aussehen – Kızılırmak, „der Rote Fluss“.
Neueste deutsche Literatur:
Jürgen Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord: Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Links Verlag, 2015
Michael Hesemann, Völkermord an den Armeniern, Herbig, 2015
Rolf Hosfeld, Tod in der Wüste: Der Völkermord an den Armeniern, C. H. Beck, 2015
von Edward Kanterian
Publiziert in Tachles, 24. April 2015
Ich stamme aus der armenischen Gemeinde in Bukarest. Einst waren die Armenier eine einflussreiche Minderheit in der rumänischen Hauptstadt, besonders vor dem Zweiten Weltkrieg. Sie profitierten von zwei größeren Einwanderungswellen, einmal am Ende des 19. Jahrhunderts, als mein Urgrossvater Ohannes am Vorabend von Pogromen das Osmanische Reich verließ, dann wieder am Ende des Ersten Weltkrieges, nachdem eine noch grössere Katastrophe über die osmanischen Armenier eingebrochen war. Im Jahre 1921 erfuhr Ohannes aus der Zeitung, dass eine verloren geglaubte Verwandte, Arsaluis, nach Familienmitgliedern suchte. Sie hielt sich im Ausland auf, wahrscheinlich in Syrien oder Bulgarien, wo es viele armenische Flüchtlinge nach dem Krieg verschlagen hatte. Ohannes schickte ihr Geld für die Reise, und so kam sie zu meiner Familie nach Bukarest. Arsaluis stammte, wie auch meine Großmutter Zaruhi, aus einem kleinen Dorf nahe der zentralanatolischen Stadt Sivas. Der Name des Dorfes ist ungewiss, laut meiner Tante hieß es vielleicht Lisanlou oder Lisanlu. Man findet ihn aber auf keiner heutigen Karte. Unsere Großfamilie in jenem Dorf zählte an die fünfzig Seelen, mehrheitlich Bauern und Händler. Was aus ihnen geworden ist, wissen wir bis heute nicht. Ich kenne keine Namen, habe keine Adressen, weiß von keinen Gräbern. Die Briefe von Ohannes an jenes Dorf blieben nach 1915 unbeantwortet, obwohl davor noch ein reger Austausch bestanden hatte. Arsaluis kannte die Gründe dieses Schweigens, aber wenn man sie nach dem Verbleib unserer Angehörigen oder selbst nach ihrer Odyssee von „Lisanlou“ nach Bukarest fragte, brach sie in Tränen aus und flüchtete aus dem Zimmer.
Meiner Familie in Bukarest erschloss sich mit der Zeit, was mit den Verwandten in Anatolien geschehen war, denn sie traf auf Armenier, die von ausgedehnten Gräueln während des Krieges berichteten. Hier ist das Zeugnis einer Bukarester Armenierin, Luisar Pîinizian, geboren in einem Dorf bei Bursa in der Westtürkei, über das Jahr 1915: „Ich war zehn Jahre alt, als das Unglück über uns kam. Die Männer wurden in die türkische Armee einberufen, aber in Wahrheit passierte etwas ganz Anderes mit ihnen. Für uns, die Frauen und Kinder, fing da der Leidensweg an, da wir gezwungen wurden, unsere heimatliche Gegend zu verlassen und auf Wanderschaft zu gehen, in das unbekannte, fremde Anatolien. Die Alten und Kranken wurden von den Türken in die Dorfkirche getrieben, die man dann in Brand steckte. Ein Menschenleben allein genügt nicht, um all das zu vergessen.“ Solche Berichte brannten sich tief in das kollektive Gedächtnis ein, lange bevor es eine wissenschaftliche Erforschung des „Medz Yeghern”, des „Grossen Verbrechens” gab. Meine Tante, 1921 in Bukarest geboren, wachte als Kind manchmal schreiend aus Alpträumen auf, in denen „die Türken uns gefangen hatten und das Schwert durch uns treiben wollten“. Auch mir erzählte mein Vater schon sehr früh vom Genozid, was meine eigenen Forschungsinteressen, z.B. über die Shoa, sicherlich beeinflussten.
Zeugnisse von Überlebenden des „Medz Yeghern” gibt es inzwischen sehr viele. Ergänzt werden sie von Berichten weiterer Zeitzeugen, jener, die den Armeniern halfen, und jener, die bloß „Zuschauer“ waren (um eine Kategorie Saul Friedländers zu verwenden). Zu den ersteren gehörten Priester und Nonnen, die karitativ und missionarisch im Mittleren Osten tätig waren, und viele Waisenkinder versorgten, sowie ausländische Diplomaten wie der damalige US-Botschafter in Konstantinopel, Henry Morgenthau. Dieser protestierte nicht nur wiederholt bei der jungtürkischen Führung gegen die Behandlung der Armenier, sondern rief auch einen amerikanischen Hilfsfond ins Leben (das „Committee of the Armenian Atrocities“). In August 1915 schrieb der Apostolische Gesandte in Konstantinopel, Angelo Dolci, nach Rom: „Es ist unmöglich, sich eine Vorstellung davon zu machen, was im Landesinnern geschieht. Die gesamte armenische Landesbevölkerung wird systematisch auf brutalste Weise aus ihren Städten und Dörfern vertrieben und an unbekannte Orte verschleppt. Meistens müssen alle diese armen Menschen in größeren Gruppen den Weg zu Fuß zurücklegen durch die trockene Landschaft, wo viele von ihnen nach ein paar Tagen den Tod finden“. Zu den bloßen Zuschauern gehörte der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Hans Freiherr von Wangenheim, der über die Ermordung der Armenier durch Berichte seiner Konsuln aus den osmanischen Provinzen genau informiert war, aber es vorzog, sich in die „inneren Angelegenheiten der Türkei“ nicht einzumischen, wie er Morgenthau gegenüber betonte.
Wie Puzzleteile tragen diese vereinzelten Stimmen und Perspektiven dazu bei, dass wir uns heute ein recht genaues Gesamtbild von der systematischen Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich machen können. Diese lief häufig nach einem bestimmten Muster ab. Zuerst wurden die Notabeln und die wehrfähigen Männer der jeweiligen armenischen Gemeinde verhaftet und außerhalb der Ortschaft hingerichtet. Dann wurden die Frauen, Kinder und Alten deportiert, im Falle von Luisa zuerst weiter nach Osten, schließlich aber in den Süden, in die syrische Wüste, vor allem nach Deir ez-Zor. Vielfach waren diese Deportationen von schrecklichen Massakern begleitet, ausgeführt von der türkischen Gendarmerie, den Todesschwadronen der sogenannten Teşkilât-ı Mahsusa, einer bewaffneten „Spezialorganisation”, aber auch von kurdischen und tscherkessischen Stämmen. Wer diesen entkam, starb später in den Wüstenlagern an Hunger und Durst, oder wurde dort umgebracht. Forscher gehen davon aus, dass so zwei Drittel der osmanischen Armenier umkamen. Beispielsweise lebten in „meiner“ Provinz Sivas gut 200.000 Armenier vor dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Krieg gab es nur noch 12.000 von ihnen. Waren darunter vielleicht auch Vorfahren von mir? Warum kam dann Arsaluis als einzige zu uns nach Bukarest? Warum erzählte sie nichts von ihren Eltern und Geschwistern, warum suchte sie erst gar nicht nach ihnen? Was hat sie gesehen, was wurde ihr angetan und wie hat sie überlebt? Vor einigen Jahren erzählte mir eine Armenierin in München, dass ihr Vater ebenfalls aus Sivas stammte und 1915 als Kind ein Massaker überlebt hatte, weil er, begraben unter den Leichen der Toten, vor den Bajonetten der kontrollierenden Soldaten geschützt war. Er erzählte auch von dem Fluss, der noch heute durch Sivas fließt, Kızılırmak. Der Fluss war rot vom Blut der Ermordeten.
Es gab auch viele erzwungene Islamisierungen und Adoptionen, vor allem von Kindern, was ihnen immerhin das Leben rettete. Doch die meisten armenischen Kinder hatten kein solches Glück. Unfassbare Verbrechen geschahen beispielsweise auf Anordnung des Polizeichefs von Deir ez-Zor, Mustafa Sidki, im Oktober 1916, als man über 2000 armenische Waisenkinder, Überlebende der Deportationen, mit Kerosin verbrannte oder gefesselt in den Euphrat warf.
Wie kam es zu diesen bestialischen Verbrechen? Sicher ist, dass sie keine vereinzelten und spontanen „Massaker“ waren, sondern Teil eines geplanten Massenmords an einer bestimmten Volksgruppe, was den Straftatbestand des Völkermords erfüllt. Hier ein aufschlussreicher Einzelfall: Am 1. Juli 1915 eröffnete der Gouverneur der Provinz Sivas, Ahmed Muammer, den örtlichen armenisch-apostolischen und armenisch-katholischen Bischöfen, dass vier Tage später die armenische Bevölkerung der Provinzhauptstadt nach Mesopotamien „evakuiert“ werde. Eine Lüge, denn tatsächlich hatte die Ermordung der Armenier in Sivas schon im März begonnen. Muammer fügte hinzu, dass ohne sein vorgeblich voraussichtiges Handeln die Armenier eine Rebellion gestartet und der Osmanischen Armee einen Dolchstoss in den Rücken versetzt hätten. Auch das war eine Lüge, denn Männer im wehrfähigen Alter gab es so gut wie keine mehr in Sivas. Zudem hatten die armenischen Vertreter immer wieder der osmanischen Regierung versichert, dass die Armenier treue osmanische Untertanen waren.
Nun war Muammer nicht nur ein Provinzgouverneur, sondern gleichzeitig der örtliche Anführer der „Spezialorganisation“. Er hatte schon im Herbst 1914 ihre Truppenstärke erhöht, indem er verurteilte Mörder amnestierte. Ähnliches geschah in den anderen osmanischen Provinzen. Die Gouverneure von Trabzon, Djemal Azmi, und Diyarbakır, Mehmed Reschid, waren ebenfalls Anführer jener „Spezialorganisation“. Beide zeichneten sich durch besondere Grausamkeit gegen armenische Frauen und Kinder aus. Beide waren zudem hohe Funktionäre in dem jungtürkischen „Komitee für Einheit und Fortschritt“, Reschid sogar einer der Gründer. Das Komitee kam 1908 an die Macht, und wurde während des Krieges von Talât Pascha (Innenminister) und Enver Pascha (Kriegsminister) angeführt. Die Vernichtung der Armenier war also Programm, was sich schon an der institutionellen Organisation des Osmanischen Reiches zeigte.
Schon vor dem Krieg hatten die Jungtürken die rassisch begründete Ideologie des Pantürkismus adoptiert, der zufolge das Osmanische Reich zu neuer Glorie finden sollte, indem man es von allen volksfremden Elementen reinigen und mit den Turkvölkern in Asien vereinigen würde. Dazu ging man eine militärische Allianz mit dem deutschen Kaiserreich ein, welches sich davon wiederum eine stärkere koloniale Präsenz im Mittleren Osten versprach. Die Situation eskalierte, als die von Enver angeführte Offensive gegen Russland im Kaukasus im Winter 1914/1915 vernichtend geschlagen wurde. Berichte über armenische Soldaten, die zu den Russen überliefen, sowie der drohende Angriff durch die Alliierten an den Dardanellen taten ihr Übriges, so dass die Jungtürken schnell den Hauptschuldigen ausmachten – die Armenier. Diese gerieten so in das, was der amerikanische Historiker Manus Midlarsky „the killing trap“ nennt: eine innere Minderheit wird in einer für eine Nation als existenzbedrohend wahrgenommenen Situation als Agent der äußeren Feinde angesehen. Diese feindselige Wahrnehmung hatte allerdings eine lange Vorgeschichte, denn als Christen waren die Armenier (wie auch die Griechen) schon lange von den muslimischen Türken stigmatisiert. So hatte es ausgedehnte Massaker gegen die Armenier bereits Ende des 19. Jahrhunderts unter Sultan Abdul Hamid II., und dann wieder 1904 und 1909 gegeben. Diesmal beschlossen die Jungtürken auf einem geheimen Treffen im März 1915, die „armenische Frage“ endgültig zu lösen. Zuerst sollten die an der russischen Front angrenzenden Provinzen ethnisch gesäubert werden. Schließlich, am 21. Juni 1915, wurde die Deportation aller Armenier aus allen Provinzen befohlen, auch jener im Westen des Landes. Gut eine Woche später schrieb der deutsche Generalkonsul Johannes Heinrich Mordtmann nach Berlin: „so sollen nunmehr auch die Armenier in den Provinzen Djanik, Trapezunt, Sivas und Mamuret ul Aziz nach Mesopotamien abgeschoben werden. Das lässt sich nicht mehr durch militärische Rücksichten rechtfertigen; es handelt sich vielmehr, wie mir Talât [Pascha] vor einigen Wochen sagte, darum die Armenier zu vernichten.”
Das ist den Jungtürken im Grossen und Ganzen auch gelungen. An die 1.5 Millionen Armenier sollen in den Jahren 1915-1916 umgekommen sein. Heute leben einige Zehntausend in der Türkei, die meisten in Istanbul, deren armenische Gemeinde aus außenpolitischen Gründen zum Teil verschont wurde. Führende Jungtürken kamen nach dem Ersten Weltkrieg in Istanbul vor Gericht. Talât, Enver und andere erhielten Todesurteile, denen sie sich durch Flucht in das Kaiserreich entziehen konnten. Allerdings gelang es armenischen Rächern manche dieser Verbrecher zu töten, wie etwa 1921 in Berlin Talât Pascha. Mit dem Wiedererstarken der türkischen Nation durch Atatürk wurde der Völkermord ignoriert und geleugnet. Inzwischen betreibt die Türkei einen großen Aufwand, um sich nicht zu ihrer historischen Schuld zu bekennen, der „schwarzen Blutspur auf ihrer Stirn“, wie einer ihrer größten Dichter, Nâzım Hikmet, es 1951 formulierte. Dabei ist die wissenschaftliche Forschung sehr weit vorangeschritten, und die Beweislast gegen die Jungtürken erdrückend, erbracht nicht nur von armenischen, deutschen, französischen und amerikanischen, sondern auch von kritischen türkischen Historikern wie Taner Akçam und Hamit Bozarslan. Auf offizieller Seite herrscht eher eine gewisse Komplizenschaft mit den Mördern von 1915. Nach Talât Pascha sind viele Straßen in der Türkei benannt, und mit dem Namen des Kinderschlächters Djemal Azmi schmückt sich heute eine Grundschule in Trabzon. Diese Kultur der Leugnung ist nicht nur abstoßend, sondern vergiftet das historische Selbstverständnis der Türkei. Meine Tante sagte mir neulich, das sei ihr nur recht, denn so würde der internationale Druck auf die Türkei nicht nachlassen.
Mir persönlich wäre es dennoch lieber, wenn die türkischen Negationisten recht hätten. Denn dann hätte es keine armenische Tragödie gegeben. Alles wäre nur ein Spuk gewesen. Ich würde jetzt mit den Nachfahren von Arsaluis in einem türkischen Café in Sivas sitzen und sie bitten, mir ein bisschen Türkisch beizubringen. Denn es heißt, Türkisch sei eine schöne Sprache. Eine Sprache, in der Flüsse eben so heißen, wie sie aussehen – Kızılırmak, „der Rote Fluss“.
Neueste deutsche Literatur:
Jürgen Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord: Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Links Verlag, 2015
Michael Hesemann, Völkermord an den Armeniern, Herbig, 2015
Rolf Hosfeld, Tod in der Wüste: Der Völkermord an den Armeniern, C. H. Beck, 2015